HT 2008: Ungleichheiten im ostdeutschen Transitionsprozess 1989/90

HT 2008: Ungleichheiten im ostdeutschen Transitionsprozess 1989/90

Organisatoren
Clemens Vollnhals, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden ; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Anke Geier, Dresden

„Ungleichheiten“, übergeordnetes Motto des 47. Historikertages, waren auch Gegenstand der Sektion des Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung in Dresden am 1. Oktober 2008. Genauer: „Ungleichheiten im ostdeutschen Transitionsprozess 1989/90“. Fünf Vorträge zu verschiedenen Aspekten der innenpolitischen Transformation und die abschließende Diskussion machten deutlich, dass die Interpretation des Geschehens von 1989/90, knapp 20 Jahre danach, noch vieldeutig ist. Clemens Vollnhals, der Moderator der Veranstaltung, zeigte einführend auf, dass der Systemwechsel von Diktatur zu Demokratie zwangsläufig mit einer Fülle von Konflikten verbunden war: der Prozess des Wandels selbst und auch die nachträgliche Deutung. Schwierigkeiten bereitet freilich bereits die Terminologie. Selbst Politikwissenschaftler geraten in analytische Konfusion bei der Vielzahl an Definitionen im Gefolge der Analysen zu historischen Transformationsprozessen.1 Der Begriff „Transition“, lateinisch für „Übergang“, wird hier als Teil des Transformationsprozesses verstanden, der Systemgrenzen überschritten hat. Nach dem Abhalten der ersten freien demokratischen Volkskammerwahl am 18. März 1990 war der Transitionsprozess, der zum Ende der Staatlichkeit der DDR führte, abgeschlossen.

Zum Auftakt der Sektion stieg MATTHIAS DAMM (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) gleich in die schwer zu fassende Nomenklatur des Systemwechsels ein: „Wende oder friedliche Revolution? Ungleiche Deutungen einer historischen Zäsur“ lautete der Vortrag, den der Doktorand zusammen mit Mark R. Thompson ausgearbeitet hatte.

Damm betrachtete die Ereignisse des Herbst 1989 und kritisierte, dass sie eher mit dem Begriff „Wende“, denn mit „Friedliche Revolution“ umschrieben würden. Da unter „Revolution“ gemeinhin ein gewalttätiges Ereignis verstanden werde, aber der Umbruch 1989 durch Gewaltlosigkeit gekennzeichnet war, rücke diese Betrachtungsweise aus dem Blickfeld der Forschung. Es existiere ein blinder Fleck für Fälle wie die „Friedliche Revolution“ in der DDR, in denen sich gerade die fehlende Organisation einer Bewegung als Stärke herausstelle. Das von Damm angewandte Bild des „Politischen Jiu-Jitsu“, ein der Gewaltlosigkeitsforschung entlehnter Begriff, stieß allerdings auf Kritik aus dem Auditorium, doch spricht es treffend für die „Friedliche Revolution“ in der DDR. Die demonstrierenden Massen boten dem Regime durch ihren Gewaltverzicht keine Angriffsmöglichkeit und trugen so zur Destabilisierung des Systems nach innen bei.

Der Referent ordnete folglich die Geschehnisse von 1989/90 dem in der Politikwissenschaft benutzten Terminus der „demokratischen Revolution“ zu: diese verlaufe friedlich, verfolge keine utopischen Ziele, sondern ziele auf Demokratisierung ab. Keine revolutionäre Clique sei der Akteur, sondern das Volk, welches die Regierung durch zivilen Ungehorsam zum Aufgeben bringe. Aber selbst in der Kategorisierung der „friedlichen Revolution“ bilde die DDR einen Sonderfall, was Damm an der spontanen Entstehung der Demonstrationsbewegung aufzeigte. Er hob die Rolle der Oppositions- und Demonstrationsbewegung hervor: Es sei das Volk gewesen, welches durch das Beharren auf Gewaltlosigkeit und Spontaneität effektiv die zur Genüge zur Verfügung stehenden Machtmittel des Staates unterwanderte, Zugeständnisse erzwang und somit entscheidend den Zeitpunkt und die Art des Zusammenbruchs der DDR bestimmte.

GUNNAR PETERS (Universität Rostock) hob die enorme Bedeutung der 10. Volkskammer für den ostdeutschen Transitionsprozess in seinem Vortrag „Ungleiche Parlamente: 10. Volkskammer und 11. Bundestag 1990“ hervor. Die 10. Volkskammer ging am 18. März 1990 aus der ersten freien und geheimen Wahl der DDR hervor. Gemeinsam mit dem 11. Bundestag stellte die Volkskammer sicher, dass sich die Wiedervereinigung 1990 demokratisch legitimiert vollzog. Peters verglich in seinem Referat Akteure, Infrastruktur, Verfahrensweisen und Entscheidungen der beiden Parlamente und kam zu dem Schluss, dass sich die Unterschiede insgesamt relativierten. Auch wenn die Volkskammerabgeordneten politische Seiteneinsteiger und parlamentarische Neulinge waren, hätte sich kein anders gearteter Parlamentarismus entwickelt, so der Referent: Die Volkskammer orientierte sich im Gesetzgebungsprozess stets am Bundestag. Zwar hätten in der Infrastruktur große Unterschiede bestanden, so fehlten der 10. Volkskammer zu Beginn ihrer Arbeit Räume, Technik und ein angemessener Verwaltungsapparat, die Arbeit wurde aber nicht entscheidend gehemmt. Grundlegende Entscheidungen, die die Volkskammer traf, initiierten die deutsche Einheit auf staatsrechtlicher Ebene: Verfassungsgrundsätze wurden beschlossen, die den sozialistischen Kern der DDR-Verfassung formell außer Kraft setzten, weiterhin eine Kommunalverfassung und ein Ländereinführungsgesetz verabschiedet. Zudem wurden innerdeutsche Verträge, die die Beitrittsmodalitäten bestimmten, beschlossen, wie der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beider deutscher Staaten, Wahlvertrag und Einigungsvertrag. Von essentieller Bedeutung, so Peters, war dann der Beschluss der Volkskammer vom 23. August 1990, dass die DDR am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik beitritt.

FRANCESCA WEIL (Hannah-Arendt-Institut Dresden) stellte in „Runde Tische: Ungleiche Ziele, ungleiche Chancen“ ihre Forschungsergebnisse des DFG-geförderten Projektes zu den Runden Tischen der Bezirke vor. Ihre Arbeit ergänzt bereits vorliegende Untersuchungen zum Zentralen Runden Tisch und soll eine wichtige Forschungslücke zur Demokratisierung Ostdeutschlands schließen. Für 2009 ist zu diesem Thema eine zeitgeschichtliche Monographie vorgesehen. Weil hob hervor, dass die fünfzehn Runden Tische der Bezirke entscheidende Institutionen der Transformationsdemokratie in den Regionen waren. Ende 1989 ins Leben gerufen, versuchten die Runden Tische das Machtvakuum, welches durch die Vertrauenskrise bezüglich der SED-Führung entstanden war, zu füllen. Obwohl ohne demokratische Legitimation, trugen die Runden Tische zum Demokratisierungsprozess bei, indem sie die Voraussetzungen für eine Verfassungsreform und für freie Wahlen schufen. Ihre Teilnehmer waren Vertreter der neuen politischen Gruppierungen, der Kirchen und auch der SED. Ein wesentlicher Verdienst ihrer Arbeit sei gewesen, so Weil, dass sie bei der Auflösung der Staatssicherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit, Chaos und Gewalt verhinderten. Die Referentin betonte in ihrem Vortrag die Vielfalt der Runden Tische in den Bezirken. Sie arbeitete sieben Varianten der Zusammenarbeit mit den Bezirkstagen und –räten heraus. Abhängig von den gestellten Zielen und Herangehensweisen, den regionalen Machtstrukturen und den handelnden Personen vor Ort zeigte sie auf, dass das Spektrum der Zusammenarbeit in den Bezirken different war und vom reinen Informationsaustausch, über Beratungs- sowie Kontrolltätigkeit reichte. Doch letztlich wären die Möglichkeiten der Kontrolle und Einflussnahme auf Entscheidungen beim Rat des Bezirkes gering gewesen. Erstens war die Zusammenarbeit vom Ausmaß der Bereitschaft der jeweiligen Bezirksbehörden abhängig und zweitens fehlten den neuen Gruppierungen der Runden Tische kompetente Fachleute, die eine wirksame Kontrolle hätten bewerkstelligen können. Die Funktion der Runden Tische der Bezirke hatte demnach einzig Symbolcharakter besessen. Dieser war aber immanent wichtig im Demokratisierungsprozess; zeigte er den Entscheidungsträgern in den Bezirken, dass sie kontrolliert wurden. Lediglich dem Runden Tisch im Bezirk Dresden sei es gelungen, die Bezirksbehörden bei den machtrelevanten Vorbereitungen zur Bildung des Freistaates Sachsen auszuschalten.

In dem Vortrag „Masse und Eliten: Ungleiche Ziele im Transitionsprozess“ befasste sich MICHAEL RICHTER (Hannah-Arendt-Institut Dresden) auf der Grundlage einer empirischen Datenanalyse mit den unterschiedlichen Zielen der Bevölkerung und der verschiedenen Akteursgruppen (Eliten) im ostdeutschen Transitionsprozess. Im Rahmen des Projektes des Hannah-Arendt-Institutes Dresden stellte er am Beispiel Sachsens bereits bekannte, aber noch nicht verifizierte, Ergebnisse vor, die demnächst veröffentlicht werden sollen. In seinen Ausführungen wurde deutlich, dass ungleiche Ziele von Massen und Eliten im Umbruchprozess bestanden, weiterhin, dass sich letztlich der politische Wille der Masse ohne die sozialistische Intelligenz vollzogen hatte.

Um die Ziele der demonstrierenden Bevölkerung quantitativ zu erfassen, wurden 4170 Parolen und Losungen, die in den Berichten des MfS, der Volkspolizei und der SED vorliegen, ausgewertet. Die Hauptforderungen der protestierenden Masse wären bis zum Fall der Mauer „Freiheit“ und „Demokratie“ gewesen, die anfänglichen Forderungen nach Reformen und einer Zulassung des Neuen Forums wären bis Mitte November 1989 rasch abgeklungen. Nach dem Mauerfall konzentrierte sich das Hauptziel auf die deutsche Einheit.

Die Ziele der „schweigenden Mehrheit“ ließen sich aus den Stimmungsberichten des MfS und der SED sowie 1990 aus den Ergebnissen der ersten freien Wahlen im März 1990 ersehen, so Richter. Ihre Forderungen wichen von denen auf den Demonstrationen ab: Im Vordergrund stand der Wunsch nach einer besseren Versorgung.

Die Bestrebungen der unterschiedlichen Elitegruppen wichen von denen der Masse ab. Zu den Elitegruppen zählten vor allem die Akteure der oppositionellen Bürgerbewegung, die Intellektuellen und Künstler, Reformkräfte in der SED und in den Blockparteien. Die Ziele der verschiedenen Eliten wurden aus den veröffentlichten Interviews und programmatischen Erklärungen entnommen. Darin drücke sich, vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989, der Wunsch nach einer Reform des Sozialismus aus. Der große, das öffentliche Bild bestimmende Teil der Intellektuellen hätte die staatliche Einheit abgelehnt. Nach dem Fall der Mauer differenzierten sich die Ziele der einzelnen Elitegruppen in drei Richtungen: Reform des Sozialismus bei Erhalt der DDR, Schaffung freiheitlich-demokratischer Verhältnisse bei Erhalt der DDR und deutsche Einheit. Den entscheidenden Impuls gab dann aber ab November 1989 die Bundesregierung unter Helmut Kohl, welche die Forderungen der Demonstranten nach deutscher Einheit aufgegriffen hatten. Zusammenfassend stellte Richter fest, dass die Elitegruppen, die den Ruf nach deutscher Einheit mitsamt sozialer Marktwirtschaft und freiheitlicher Demokratie aufnahmen, wie die Regierung Kohl, Ost-CDU, Demokratischer Aufbruch, Teile des Neuen Forums oder die Sozialdemokratische Partei der DDR, binnen kurzer Zeit zu Hauptakteuren des Umbruchprozesses avancierten.

Im letzten Vortrag der Sektion „Blühende Landschaften oder entvölkerte Landkreise? Die neuen Bundesländer zwischen Wachstum- und Schrumpfungsprozessen“ betrachtete GÜNTER HEYDEMANN (Universität Leipzig) die demografische Entwicklung in Deutschland im Zusammenhang mit der Transition der zentralen Planverwaltungswirtschaft der DDR in die soziale Marktwirtschaft der BRD. Die vorab angebrachten Negativ-Beispiele verdeutlichten den fundamentalen sozioökonomischen Wandel seit 1989/90 und zeigten die noch immer bestehenden Ungleichheiten der Arbeits- und Lebensbedingungen im vereinten Deutschland auf: Allein die ehemalige industrielle Vorzeigestadt Weißwasser in Ostsachsen, die 1987 37.000, 2003 gerade noch 23.000 Einwohner zählte, verlor jährlich rund vier Prozent seiner Einwohner.2 Die Prognosen deuten daraufhin, dass bis 2020 zahlreiche ostdeutsche Landkreise gegenüber 1990 über die Hälfte ihrer Einwohner verlieren werden.

Heydemann fragte nach den Ursachen des einschneidenden Schrumpfungsprozesses, denn trotz massiver Finanz- und Investitionsleistungen seit fast 20 Jahren sei Ostdeutschland weit davon entfernt, sozioökonomisch zu Westdeutschland aufzuschließen. Die Ursache und gleichzeitige Folge dessen sei der innerdeutsche Migrationsprozess von Ost nach West. Die Entwicklung sei umso gravierender, da mit den sogenannten „Berufs- und Bildungswanderern“ zwischen 18 und 30 Jahren die Generation mit der größten Fertilitätsrate abwandere, was wiederum zu schrumpfender Fertilität, sukzessiver Überalterung der Bevölkerung und damit zu reduzierter Steuerleistung und sinkender Kaufkraft in den neuen Bundesländern führe. Dagegen würden wirtschaftsstarke Gegenden im Westen Deutschlands von den ostdeutschen Binnenwanderern profitieren.

Als Folge der Abwanderung bildeten sich in den neuen Bundesländern zwei polarisierte Raumtypen heraus: „blühende Landschaften“ und entvölkerte Landkreise. Seit der Wende, so der Referent, entstanden nur einige wenige Wachstumsinseln, wie die ökonomisch starken Regionen Berlin/Potsdam, Dresden und Leipzig. Die sich zugleich entwickelnden großflächigen, strukturschwachen, bevölkerungsarmen und überalterten Regionen auf dem Land und an der Peripherie überwögen dennoch und gelten als Indiz für die gescheiterte staatliche und privatwirtschaftliche Wirtschafts- und Infrastrukturförderung im Osten.

Sein Resümee daraus: Flächendeckend waren im bisherigen sozioökonomischen Transformationsprozess keine Erfolge zu verbuchen. Heydemann nannte Gründe für den Misserfolg: 1989/90 sei der tatsächliche Zustand der DDR-Wirtschaft unterschätzt und die Leistungsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft überschätzt worden. Die Probleme in den neuen Bundesländern, wie zum Beispiel der Mangel an Arbeitsplätzen oder der Produktivitätsrückstand, hätten sich seit der Wende teilweise verschärft bzw. konnten nicht aufgelöst werden. Mittel- und langfristig seien radikal defizitäre, industrielle Produktionsanlagen abgebaut worden, damit verbunden war aber ein rascher Arbeitsplatzabbau, welcher Hauptgrund für die massive Binnenwanderung in Deutschland gewesen sei.

Die Referate boten tiefere Einblicke in den Transitionsprozess 1989/90. Zugegebenermaßen sind die vorgetragenen Ergebnisse bereits vertraut. Die Neuerung besteht allerdings darin, dieses Wissen neu verortet und einige der Ergebnisse endlich quantitativ und qualitativ erfasst zu haben. Die anschließend mitunter kontrovers geführte Diskussion der Vorträge, die sich am Begriff der Ungleichheiten entzündete, zeigte das Interesse an der Thematik, die auch Gegenstand der großen, mit Zeitzeugen besetzten Podiumsdiskussion zum Thema „Die friedliche Revolution und die deutsche Vereinigung 1989/90: das Volk, die Volkswirtschaft“ am letzten Veranstaltungstag des 47. Historikerkongresses in Dresden war. Es ist vorgesehen, die Vorträge der Sektion in erweiterter Form in der Zeitschrift des Hannah-Arendt-Institutes „Totalitarismus und Demokratie“ zu publizieren.

Sektionsübersicht:

Matthias Damm (Erlangen-Nürnberg): Wende oder friedliche Revolution? Ungleiche Deutungen einer historischen Zäsur

Gunnar Peters (Rostock): Ungleiche Parlamente: 10. Volkskammer und 11. Bundestag 1990

Francesca Weil (Dresden) Runde Tische: Ungleiche Ziele, ungleiche Chancen

Michael Richter (Dresden): Masse und Eliten: Ungleiche Ziele im Transitionsprozess

Günter Heydemann (Leipzig): „Blühende Landschaften“ oder entvölkerte Landkreise? Die neuen Bundesländer zwischen Wachstum- und Schrumpfungsprozessen

Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Merkel (Hrsg.), Systemwechsel, Bd. 1: Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung, 2., rev. Auflage, Opladen, 1996, S. 10.
2 Matthias Bernt / Andreas Peter, Bevölkerungsrückgang und Alterung als maßgebliche Entwicklungsdeterminanten: der Fall Weißwasser, in: Raumforschung und Raumordnung 3 (2005), S. 217f.